Im Farbfluss

 

Eine Farbüberlegung steht meist am Beginn, dann geht es spontan weiter und sie ist gespannt, wo sie das Bild hinführt: Annerose Nickel folgt beim Malen ihrer Eingebung und lässt kompositorische Überlegungen beiseite. Die Künstlerin lebt ihre Malerei aktiv und körperbetont, sie erspürt den Rhythmus des Werkes und verlässt sich ganz auf ihr Gefühl. Malerische und zeichnerische Komponenten überlagern sich, verbinden sich und steigern ihre Kraft durch Zusammenführung und gegenseitige Durchdringung. Kennzeichnend für ihr Schaffen ist eine überaus dichte Komplexität der künstlerischen Mittel.

 

Die heiligen Dinge informeller Malerei: Augenblicksentwurf, schnelle Gestik, große Emphase – sie spielen damit auch im Werk der Kaisers­lauterer Malerin Annerose Nickel eine grundlegende Rolle. Daneben werden ihre Werke wesentlich bestimmt von der malerischen Hand­schrift, dem individuellen Duktus. Ihre Schöpfungen sind spannende ästhetische Gebilde von großem visuellem Reiz und eindringlicher Rhythmisierung.

 

Nickels Stilfindung zeigt darüber hinaus, dass die malerischen Er­rungenschaften des Informel auch heute virulent und aktuell sind. Informel meint „anti-formalistisch“ oder „offen in der Form“. Der französische Maler und Philosoph Jean-Michel Atlan hat davon eine gültige Vorstellung formuliert: „Ein Bild kann nicht das Ergebnis ei­ner vorgefassten Idee sein. Die Rolle des Zufalls ist zu wichtig, und in der Tat ist es dieses Moment des Zufalls, das letztendlich im Schaffen entscheidet. Am Beginn steht ein Rhythmus, der sich entfalten will: Die Auffassung dieses Rhythmus‘ ist das Grundlegende, und in seiner Entfaltung zeigt sich die Lebenskraft des Werkes.“ Dabei fußt das Informel auf den automatischen Techniken der Surrealisten, insbesondere auf der von André Masson bereits 1924 entwickelten écriture automatique.

 

Annerose Nickels Arbeit zeigt, dass mittlerweile weitere stilgeschichtliche Einsichten mit informellem Gedankengut gekoppelt

werden. Wichtig erscheint die Erfahrung der Prozesshaftigkeit des künstlerischen Tuns, der auf dynamischer Malgestik beruhende Handlungsablauf, ein charakteristisches Kennzeichen des Action-Painting. Nickel betrachtet ihre Leinwand ganz nach dem berühmten Wort Jackson Pollocks als Arena, in der eine Aktion stattfindet. Sie legt den Farbträger auf den Boden, um von allen Seiten her in direktem Zugriff arbeiten zu können.

 

Die fließenden Bewegungen in der Motorik ihrer aktionistischen Malerei sind Annerose Nickel wichtig, die Künstlerin lebt im künstlerischen Tun ihre aktive Seite aus, sie will im Malakt spüren, „wo der Körper hinwill“, wie sie im Gespräch betont. Entwickelt wird ihre Malerei in mehreren Malschichten übereinander, stetig sich ergänzend und verdichtend, dabei aber leicht und bewegt wirkend: nicht umsonst sind ihre jüngsten Arbeiten sehr lyrisch als Farbfluss betitelt.

 

Dr. Heinz Höfchen

(Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern)